Donnerstag, 29. April 2010

Der “Widerständler” Schacht berichtet



»Am 20. Juli 1944 nachmittags erfuhr ich im „Hotel Regina” in München, von dem Mißlingen des Attentats. Meine beiden kleinen Kinder aus zweiter Ehe hatte ich zu meiner verheirateten Tochter auf den Hohenpeißenberg gebracht, weil ich im Hinblick auf, das bevorstehende Attentat freier beweglich sein wollte. Nun war der Streich mißglückt.


Ohne an eine Gefahr für mich zu denken, fuhr ich zu meiner Frau nach Berlin zurück. Ich hatte bis dahin meine Frau mit keinem Wort in die Attentatspläne eingeweiht. Als wir beim Abendgespräch saßen, wollte ich der bis dahin Ahnungslosen Aufklärungen geben, als meine Frau instinktiv die Hände erhob und ausrief: „Bitte erzähl’ mir nichts.” Ich antwortete: „Du hast ganz recht, man kann nie wissen.” Am nächsten Morgen des 23. Juli wußten wir. Kurz vor 8 Uhr wurde ich von der Geheimen Staatspolizei geholt und in das Konzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg i. M, gebracht. Ihrer instinktiven Abwehr verdankt es meine Frau, daß sie bei den späteren Vernehmungen von der Gestapo unbehelligt gelassen wurde.


Ravensbrück war ein Frauenlager, für einige zehntausend Frauen, meistens sogenannte Ostarbeiter, barackenmäßig errichtet. Dazu gehörte ein sogenannter Zellenbau mit 80 Zellen für besondere Gefangene. Ich wurde in eine der Zellen geführt und merkte an dem Grinsen des begleitenden Wachmannes, daß irgend etwas Besonderes damit los war. Es stellte sich heraus, daß man mir sinnigerweise dieselbe Zelle zugewiesen hatte, die kurz vor mir mein Schwiegersohn van Scherpenberg ein halbes Jahr lang bewohnt hatte.


Scherpenberg hatte vor längerer Zeit an einer Teegesellschaft teilgenommen, welche die sehr bekannte Leiterin eines Mädchenerziehungsheimes, Fräu1ein von Thadden, eingeladen hatte. Fräulein von Thadden stand auf ausgesprochen christlich-religiösem Boden und war eine entschiedene Gegnerin der Nazis. Zu dieser Gesellschaft, an der u. a. der frühere Staatssekretär Zarden, der Gesandte Otto Kiep und Frau Solf teilnahmen, hatte Fräulein von Thadden unglücklicherweise einen Dr. med. Reckzeh geladen, den sie erst jüngst kennengelernt hatte, der aber ein Spitzel der Gestapo war und sich an Fräulein von Thadden herangemacht hatte, um sie hereinzulegen. Natürlich wurden bei der Teeunterhaltung eine ganze Reihe kriegs- und nazifeindlicher Äußerungen laut, so daß die ganze Gesellschaft bald darauf verhaftet wurde. Auf Grund des Zeugnisses von Dr. Reckzeh wurden Fräulein von Thadden und Gesandter Kiep vom Volksgerichtshof zum Tode und mein Schwiegersohn Scherpenberg zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Staatssekretär Zarden schied schon vor dem Urteil durch Selbstmord aus dem Leben.


Der Zellenbau in Ravensbrück lag etwa fünfviertel Meter tief in der Erde, so daß das unter der Decke des Raumes befindliche Fenster gerade noch ins Freie sah. Alle Zellen waren Einze1ze1len, und die Insassen wurden streng voneinander getrennt gehalten. Jedes Gespräch mit anderen Häftlingen, wenn wir sie zufällig einmal auf dem Gange oder beim Spaziergang auf dem Hof trafen, war strengstens untersagt. Die überwachende SS-Mannschaft paßte gut auf. Dennoch gelang es gelegentlich beim Spaziergang, sich einmal ein paar Worte zuzuflüstern oder heimlich einen Zettel zuzustecken. An Gesinnungsgenossen habe ich in Ravensbrück getroffen oder gespürt Generaloberst Halder, Reichsminister Geßler, Staatssekretär Pünder, Generalkonsul Schniewind, Ministerialdirektor Ernst, Ministerialrat Sperl, Botschaftsrat Graf Bernstorf, Professor von Dietze und manche andere. Bei der geschilderten Isolierung kamen wir mit dem eigentlichen Barackenlager wenig in Berührung, konnten aber doch, wenn wir zum Verhör geführt wurden, manches wahrnehmen. Das Lager war sichtlich weitaus überfüllt. Vom Baderaum aus konnten wir auf einen kleinen Hof sehen, wo eine Anzahl Mütter ihre Neugeborenen betreuten, wenn dieser Ausdruck bei der Primitivität der Einrichtungen angebracht ist. Morgens und nachmittags hörten wir den Marschtritt und den befohlenen Gesang der aus- und einrückenden Arbeiterinnenbataillone, die in die nahe Siemens-Fabrik von und zur Arbeit geführt wurden. Die Vergasungen und medizinischen Experimente an lebenden Menschen, die in Ravensbrück vorgenommen wurden, blieben uns, mit Ausnahme der Kamine, verborgen.


Hatte ich bisher an die gelegentlichen Erzählungen über Folterungen und körperliche Mißhandlungen nie recht glauben wollen, weil mir Tatzeugen oder besser Leidenszeugen nie zu Gesicht gekommen waren, so mußte ich jetzt in Ravensbrück von einer Reihe von Mitgefangenen erfahren, daß sie bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen und mit Daumenschrauben und anderen Folterwerkzeugen mißhandelt worden waren. Und der Leiter des Lagers, Kriminalkommissar Lange, hatte Zigaretten rauchend und die Prügelnden anfeuernd, dabei gesessen.


Wenige Tage nach meiner Einlieferung begann die Mühle der Vernehmungen. Stundenlange Diktate in die Maschine über den ganzen Lebenslauf, über alle in- und ausländischen Beziehungen, Stellungnahme zu allen sogenannten weltanschaulichen Fragen, alles auf Ermüdung, Irreführung und Herbeiführung innerer Widersprüche berechnet, aber kein Wort darüber, was man mir eigentlich vorzuwerfen gedachte. Natürlich hatte ich selber mir längst darüber klar zu werden versucht, woher mir Gefahr kommen könnte. Da schien mir nur der eine Name Lindemann gefährlich. Wenn mein Freund Oberst Gronau, bei dem wir uns getroffen hatten, ebenfalls verhaftet war, dann konnten, ja dann mußten sich aus dem Verhör von drei nicht vorher aufeinander abgestimmten Gefangenen Widersprüche ergeben, die zur Aufdeckung des Zusammenhanges führen mußten. Da erfuhr ich durch die Zeitung, deren betreffende Nummer man uns absichtlich vorenthalten hatte, die ich mir aber durch die Auslieferung einer Zigarre beschaffen konnte, daß Lindemann desertiert sei. Ich hoffte ihn in Sicherheit.


Am 28. August wurde ich plötzlich in blauweißgestreifte Sträflingsuniform gesteckt und mit Handschellen gefesselt nach Berlin gebracht. Drei Tage und Nächte brachte ich in diesem Zustande zunächst im Moabiter Zellengefängnis in einer völlig verwanzten Zelle zu, ohne daß mir auch nur meine Toilettesachen ausgehändigt wurden. Dann wurde ich in die offenbar überfüllten Keller der Prinz-Albrecht-Straße gebracht, in das Hauptquartier der Gestapo.


War ich zunächst wohl nur auf allgemeinen Verdacht hin verhaftet worden, so glaubte man jetzt anscheinend einen Beweis für meine Teilnahme am Attentat gefunden zu haben. Im Nürnberger Prozeß hat der vormalige Minister Speer, der häufig in Hitlers Umgebung weilte, ausgesagt: „Am 22. Juli 1944 äußerte Hitler in meiner (Speers) Anwesenheit zu einem größeren Kreis, daß Schacht als einer der Gegner des autoritären Systems mitverhaftet werden solle. Anschließend äußerte sich Hitler sehr hart über die Tätigkeit Schachts und die Schwierigkeiten, die, er (Hitler) durch seine (Schachts) Wirtschaftspolitik mit der Aufrüstung gehabt habe. Eigentlich gehöre ein Mann wie Schacht wegen seiner negativen Tätigkeit vor dem Kriege erschossen.”


(Quelle: Reichsbankier Schacht, Abrechnung mit Hitler, 1949)