Mittwoch, 30. November 2011

Netzwerke des Bundesnachrichtendienstes (Teil I)

Über die Netzwerke des Bundesnachrichtendienstes (Teil I)

Nutzte alte Kontakte zum Aufbau eines westdeutschen Geheimdienstes: Nazioffizier Reinhard Gehlen (erste Reihe Mitte, undatiertes Foto aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs) Foto: AP

Als verbindliche Rechtsnorm erließ der Alliierte Kontrollrat am 20. Dezember 1945 das Kontrollratsgesetz Nr. 10, am 12. Januar 1946 wurde die Kontrollratsdirektive Nr. 24 und am 12. Oktober 1946 die Direktive Nr. 38 erlassen. Darin wurden in der Kategorie der als »sonstige Hauptschuldige« an den NS-Verbrechen zu internierenden Personen u.a. genannt: Beamte bzw. leitende Beamte der Geheimdienste und der Abwehrämter, der Sicherheits- und Ordnungspolizei sowie alle NSDAP-Funktionäre vom Kreisleiter aufwärts, alle SS-Offiziere ab Major und die Mitglieder der SS-Totenkopfverbände.1

Die Direktive Nr. 24 enthielt z.B. unter Ziffer 70 des Abschnittes 10 folgende Definition:

»Alle Offiziere und alle anderen Personen, die zu irgendeiner Zeit dem Militärischen Amt (früher Abwehramt) oder dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und deren Außenstellen und abhängigen Organisationen oder der uniformierten Polizei, der Kriminal- oder Geheimpolizei oder einer anderen Polizeiformation oder mit diesen verbundenen Einheiten und Kommandos angehörten, die laut Anordnung der Verhaftung unterliegen, sind zwangsläufig zu entlassen und für immer von jedem Amt und jeder einflußreichen Stellung auszuschließen. Ferner ist alles Personal, das seit dem 1. Januar 1933 von dem deutschen Abwehrdienst oder von Organisationen oder Außenstellen, welche von diesem Befehle empfingen oder abhängig waren, im Ausland beschäftigt waren, zu entlassen und von jedem Amt oder Stellung von Einfluß auszuschließen.«

In der Praxis allerdings verlief die Umsetzung dieser Direktive in den einzelnen Besatzungszonen sehr unterschiedlich. Denn die Alliierten legten ihre eigenen internationalen Vereinbarungen über die gemeinsame Nachkriegspolitik entsprechend ihren ganz spezifischen Interessen aus.

Im Widerspruch zu den gemeinsam erarbeiteten und verbindlichen Regelungen des Völkerrechts verhalfen die US-Geheimdienste von Anfang an schwerbelasteten Nazis zur Flucht bzw. nutzten sie ohne Skrupel für Spionage und Subversion gegen den bisherigen Verbündeten und zu geheimdienstlichen Operationen für die Sicherung ihrer Herrschaftsverhältnisse in den Westzonen.

Erst 1996 billigte das Repräsentantenhaus der USA eine Gesetzesvorlage, nach der mutmaßliche Kriegsverbrecher künftig in den Vereinigten Staaten festgenommen und vor Gericht gestellt werden könnten. Der Entwurf legt den Strafrahmen für Kriegsverbrechen fest. In Fällen, die zum Tod der Opfer führten, ist auch die Todesstrafe vorgesehen.2

Obwohl die USA die Londoner Statuten des Internationalen Militärtribunals als Grundlage der Nürnberger Prozesse mit erarbeitet und bestätigt hatten, brauchten sie 50 Jahre, um die Strafverfolgung für faschistische Kriegsverbrecher in innerstaatliches Recht umzusetzen.


Renazifizierung in der BRD
Mit der Gründung der Bundesrepublik erhielt die Tendenz zur Renazifizierung in diesem Teil Deutschlands eine verfassungsrechtliche und gesetzgeberische Grundlage.

In einem der ersten Gesetzgebungsakte der Bundesrepublik wurde den Fragebogenfälschern unter den Altnazis völlige Straffreiheit gewährt. Im Paragraphen 10 des »Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit« vom 31. Dezember 1949 (Bundesgesetzblatt 1949/50, S. 37) ist festgelegt: »Für Straftaten, die zwischen dem 10. Mai 1945 und dem Inkrafttreten dieses Gesetzes zur Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen begangen wurden, wird, auch wenn sie nach dieser Zeit fortdauern, Straffreiheit ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe gewährt, wenn der Täter bis spätestens 31. März 1950 bei der Polizeibehörde seines Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes freiwillig seine unwahren Angaben widerruft und bisher entgegen gesetzlicher Vorschrift unterlassene Angaben nachholt.«

Damit wurde es den untergetauchten bzw. unter falschem Namen lebenden Nazis ermöglicht, durch Offenlegung ihrer richtigen Personaldaten die Voraussetzungen zu schaffen, um ihre »Ansprüche aus der Zeit vor dem 8. Mai 1945« geltend zu machen.

Das geschah durch Regelungen des Grundgesetzes und dem darauf basierenden Ausführungsgesetz. Artikel 131 des Grundgesetzes bestimmte: »Frühere Angehörige des öffentlichen Dienstes. Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8.Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln.«

Im Mai 1951 verabschiedete der Deutsche Bundestag das rückwirkend zum 1.April 1951 in Kraft tretende »131er-Gesetz« (»Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen«). Selbiges verpflichtete die Behörden, mindestens 20 Prozent ihres Personals aus den Reihen dieses Personenkreises einzustellen, ihnen wurde ein Rechtsanspruch auf Wiederverwendung zugebilligt. Ausgenommen sollten nur die »Haupttäter« und anfangs auch ehemalige Gestapo-Beamte sein. Paragraph 67 dieses Gesetzes definiert jedoch z.B. als berechtigte Personen: »Beamte und Berufssoldaten, die an eine Dienststelle der früheren Geheimen Staatspolizei, an das frühere Forschungsamt RLM (Reichsluftfahrtsministerium – d.A.), zur früheren Waffen-SS von Amts wegen versetzt waren und dort bis zum 8. Mai 1945 verblieben oder in den Ruhestand getreten sind (…).«

Interessant ist die Bestimmung »von Amts wegen versetzt«, die suggerieren soll, daß dieser Personenkreis nicht freiwillig und aus tiefster Überzeugung dem faschistischen Repressionsapparat gedient habe, sondern nur in Folge einer bürokratischen Entscheidung.

Nach offiziellen westdeutschen Angaben fanden bis zum März 1956 181202 dieser sogenannten 131er wieder Anstellung in Bonner Diensten.3 Nicht weniger als 75 bis 80 Prozent der in öffentliche Ämter der Bundesrepublik eingestellten Beamten hatten bereits dem faschistischen System gedient.

»Es ging«, wie der deutsche Schriftsteller und Journalist Bernt Engelmann bemerkt, »nicht mehr um die Entfernung derer aus dem Staatsdienst, die sich der Teilnahme an Terror und Massenmord nicht verweigert, sondern bewußt daran mitgewirkt und so den Rückfall in die Barbarei erst ermöglicht hatten; es ging nur noch um die ›Notwendigkeit‹, ›wertvolle Menschen‹ ›wiedereinzugliedern« und deren ›Kenntnisse und Erfahrungen (…) für den Wiederaufbau des Rechtsstaates‹ nutzbar zu machen!«4

Die nach den Nürnberger Prozessen einsetzende Umwandlung von Strafen, Begnadigungen und Haftentlassungen (oft auf direkte Intervention des US-Hochkommissars) waren Teil dieses Prozesses. Die Regierung der Bundesrepublik hat diese Politik der Verschonung der Kriegsverbrecher von Strafen weitergeführt und mit der in breitem Maße praktizierten Wiedereingliederung in staatliche und politische Ämter noch weiter gesteigert.


Die »alte Arbeit« fortsetzen
Im Juli 1946 kehrte der ehemalige Wehrmachtsgeneral Reinhard Gehlen mit einer Gruppe ausgewählter Nazioffiziere von ehemals Fremde Heere Ost (FHO) beim Oberkommando des Heeres (OKH) nach einem einjährigen Aufenthalt in den USA nach Deutschland zurück. In den USA hatte er die von ihm sichergestellten Unterlagen über die Tätigkeit von FHO während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion übergeben und ihre weitere Auswertung vereinbart.

Gehlen kehrte mit der Vorentscheidung aus den USA zurück, mit seiner Hilfe einen deutschen Geheimdienst gegen Osteuropa und gegen die Sowjetunion unter Verwendung »erfahrener« Spezialisten aufzubauen. Dazu schreibt er in seinen Erinnerungen: »Es wird eine deutsche nachrichtendienstliche Organisation unter Benutzung des vorhandenen Potentials geschaffen, die nach Osten aufklärt beziehungsweise die alte Arbeit im gleichen Sinne fortsetzt. Die Grundlage ist das gemeinsame Interesse an der Verteidigung gegen den Kommunismus.«5

Dank der Freigabe von mehr als acht Millionen Dokumentenseiten durch das US-Nationalarchiv, die seit dem Jahre 2000 nach und nach für Forschung und Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, ist über die Entstehung und Entwicklung der Organisation Gehlen ein hervorragender Einblick möglich. Tausende von Biographien werden in Einzelheiten dargestellt, auch die nazistische Vergangenheit der Akteure und ihre Verstrickungen in Verbrechen, die den Behörden der Vereinigten Staaten bekannt waren.

Von Anfang an rekrutierte Gehlen nicht nur ehemalige Offiziere von FHO und der Wehrmacht, sondern auch Exmitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), des Sicherheitsdienstes (SD) und der SS, der Gestapo und der Geheimen Feldpolizei, so wie das von allen Geheimdiensten der BRD praktiziert wurde. Alte FHO-Kontakte zu antikommunistischen Emigrantenbewegungen und zu Angehörigen der Wlassow-Armee wurden wieder aufgenommen.

In dem Buch »Angriff und Abwehr«6 werden umfassende Untersuchungen zu den Gründervätern der westdeutschen Geheimdienste dokumentiert. Dafür wurden zirka 1000 der Dokumente aus den US-Archiven ausgewertet und etwa 100 Biographien von führenden Naziaktivisten und Kriegsverbrechern aus der Gründergeneration des BND dargestellt. Es versteht sich von selbst, daß diese Dokumente für die nunmehr in Aussicht gestellte Aufarbeitung der BND-Periode 1945 bis 1968 unersetzlich sind.7

Der britische Journalist Sefton Delmer, der eng mit englischen Diensten verbunden war, hatte bereits 1952 das braune Sammelbecken in Pullach entlarvt. Er schrieb unter der Überschrift »Hitlergeneral spioniert jetzt für Dollars«: »Achten Sie auf einen Namen, der Schlimmes verheißt. Er steht für den meiner Meinung nach gefährlichsten politischen Sprengstoff im heutigen Westeuropa. Dieser Namen lautet Gehlen. (…) Vor zehn Jahren war dies der Name eines der fähigsten Stabsoffiziere von Hitler (…) Heute ist Gehlen der Name einer Geheimorganisation von gewaltiger und zunehmend größerer Macht (…) Während er seine Organisation immer weiter ausbaute, krochen jede Menge frühere Nazis, SS- und SD-Leute in seiner Organisation unter, wo sie vollen Schutz genossen. Heute ist Gehlen der Kopf einer Spionageorganisation, die ihre Agenten in allen Teilen der Erde hat. (…) Die Gefahr, die von dieser Organisation ausgeht, liegt in der Zukunft. Denn Gehlens Agentennetz ist schon heute in Deutschland zu einer immensen Untergrundmacht geworden.«8

James H. Critchfield, Oberst und erster Verbindungsoffizier der CIA zu Gehlen, zeigte sich in seinem ersten Bericht an die Zentrale Ende 1948 beeindruckt von Gehlen, seinem «Spionagepotential« sowie dem Engagement für die USA. Im Punkt 10 stellt er fest:

»Rusty (Deckname für die Organisation Gehlen) deckt gegenwärtig Ostdeutschland mit 600 Agenten ab, Ziel ist Anhebung Grad der Durchdringung aller Facetten sowjetischer und kommunistischer Aktivitäten in Sowjetischer Zone.« Und im Punkt 7: »Rusty hat gut entwickelte Möglichkeiten für strategische Operationen gegen UdSSR über Baltikum und Mittleren Osten.« Critchfield schreibt weiter von «engsten Verbindungen Rustys mit deutschen Generalstabsoffizieren in ganz Deutschland« und nennt eine Zahl von 4000, die Rusty umfaßt.9


Judenmörder im BND-Sold
Die Judenverfolgung in Nazideutschland begann 1933 mit der Einführung der Schutzhaft und der Einrichtung von Konzentrationslagern als zentrale Bestandteile des faschistischen Herrschaftssystems und wurde mit Gesetzen wie
»Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« und dem »Reichskulturkammergesetz« (in beiden Gesetzen wurde die Betätigung von Juden ausgeschlossen) bis zu den 1935 verabschiedeten Rassegesetzen scheinbar legalisiert.

Dr. Hans-Maria Globke, Ministerialrat im Reichsinnenministerium, später Leiter des Bonner Bundeskanzleramtes und engster Vertrauter Adenauers, leistete mit der Ausarbeitung der ersten Ausführungsverordnung einen gewichtigen Beitrag und war nachweisbar an der Verfolgung von Juden in Deutschland und Europa beteiligt.

Mit der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 erfolgte der Startschuß für die systematische, industriemäßige Vernichtung der europäischen Juden.

Das 1937 gegründete Wannsee-Institut wurde 1941 als Amt VII – Weltanschauung und Auswertung – in das RSHA eingegliedert. Es leitete federführend die Vorbereitung und Durchführung der Wannsee-Konferenz, an der 15 hochrangige Vertreter der Ministerialbürokratie des Hitlerregimes teilnahmen.

Leiter des Amtes VII war von 1941 bis 1945 Dr. Franz Alfred Six. Er galt als einer der intellektuellen Vordenker der Hitlerdiktatur. 1941 wurde er von Himmler mit der Leitung des »Vorkommandos Moskau« innerhalb der Einsatzgruppe B beauftragt, dessen Aufgabe auch die Erfassung und Vernichtung von »Partisanen, Saboteuren und kommunistischen Funktionären« war. Bei seinem Einsatz kam es u. a. in Smolensk zur Ermordung von zirka 200 Personen, wie er selbst an das SS-Hauptamt berichtete. Im Januar 1945 wurde Six noch zum SS-Brigadeführer befördert. Six wurde 1946 leitender Mitarbeiter in der Organisation Gehlen. 1948 erfolgte im Einsatzgruppenprozeß seine Verurteilung zu 20 Jahren Haft, 1952 jedoch schon seine Begnadigung. Er nahm erneut seine Tätigkeit bei Gehlen auf.

Einen ähnlichen Werdegang kann Dr. Emil Augsburg vorweisen. Er gehörte zum Führungspersonal des Wannsee-Institus, wurde 1937 Mitarbeiter des RSHA und gehörte 1941 in Minsk einem Einsatzkommando an, das u. a. an Erschießungen im Raum Smolensk beteiligt war. Augsburg wurde mehrfach wegen »außergewöhnlicher Ergebnisse bei Sonderaktionen« belobigt. Unter dem Pseudonym Dr. Althaus arbeitete er vor seinem 1946 erfolgten Eintritt in die Organisation Gehlen zunächst für den CIC. Als Fachmann für Fragen der Sowjetunion gehörte er zum Stab Gehlens.

Prof. Dr. Michail Achmeteli galt als ein bedeutender »Ostexperte« im Wannsee-Institut. Das von ihm an der Breslauer Universität eingerichtete Zentrum für »Antikommunistische Studien« bildete den Grundstock der SS-Archive über die Sowjetunion. Aus dem Wannsee-Institut heraus war er Verbindungsmann zu FHO und im Rahmen der Aktion »Zeppelin« mitverantwortlich für Diversionseinsätze mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Achmeteli arbeitete seit 1946 für Gehlen, mit dem er eng befreundet war.




Seilschaften in der Bundeswehr
Unter Gehlen vollzog sich die langfristige personelle Sammlung und gesicherte Deponierung der späteren Führungskader der Bundeswehr. Hier erfolgte auch die konzeptionelle Vorarbeit für Strukturen, Aufgabenstellungen, Strategien und Bewaffnung einschließlich des praktischen Vorgehens beim Aufbau der westdeutschen Streitmacht.

Einer der ersten und engsten Mitarbeiter Gehlens war neben seinem ehemaligen Stellvertreter und Nachfolger im FHO, Gerhard Wessel, General Adolf Heusinger. Dieser hatte 1940/1941 als Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres den Plan zum Überfall auf die Sowjetunion »Barbarossa« ausgearbeitet, woran übrigens auch Gehlen beteiligt war. Später hatte Heusinger dem FHO-Chef Gehlen sowjetische Kriegsgefangene zur Vernehmung und »Weiterverwendung« zugetrieben.

Gehlen parkte Heusinger zunächst in seiner Organisation und übertrug ihm die verantwortliche Funktion eines Leiters der Auswertung, wo er zwangsläufig engste Kontakte zu den amerikanischen Verbindungsoffizieren unterhielt. Mit seinen Analysen über die angebliche Bedrohung des Westens durch bis zu 175 kampfbereite Divisionen der Sowjetunion trug Heusinger wesentlich zur Eskalation des Kalten Krieges bei.

Ab 1950 war Heusinger einer der Hauptakteure der Remilitarisierung Westdeutschlands. Er wurde auf Vorschlag Globkes zum militärischen Berater Adenauers ernannt, später zum Beauftragten für Wehrfragen. 1955 avancierte er zum Generalleutnant der Bundeswehr und wurde 1957 ihr erster Generalinspekteur.

Nach Feststellungen des ersten Verbindungsoffiziers der CIA, Critchfield, sah es Heusinger gemeinsam mit den Nazioffizieren Speidel und Foertsch10 als seine Aufgabe an, »sich Gedanken zu machen, wie ein völlig neues nationales Sicherheitssystem aussehen könnte, das den Interessen der neuen Regierung in Bonn dienen, (…) würde.« Die ›Organisation Gehlen‹ »bot eine gesicherte, politisch geschützte und verwaltungstechnisch unterstützte Basis.«11

Heusinger verfaßte während seiner Tätigkeit in der Organisation Gehlen mehrere Studien zum Aufbau der Bundeswehr, die er teilweise über seine CIA-Verbindungen an das Pentagon lancierte. Gemeinsam mit Foertsch und Speidel entstand 1950 die sogenannte Sommerdenkschrift – Gedanken über die Frage der äußeren Sicherheit der BRD. Darin ist eine Analyse der angeblichen Stärke der sowjetischen Land-, Luft- und Seestreitkräfte in Mitteleuropa enthalten, davon angeblich 30 einsatzbereite Divisionen in der DDR.

Im Oktober 1950 fand die streng geheime »Himmeroder Konferenz« statt, deren 15 Teilnehmer von Globke bestätigt wurden. Die Konferenz legte im einzelnen den Aufbau der Bundeswehr fest12, und wurde maßgeblich im Hause Gehlen vorbereitet. Adolf Heusinger, Hermann Foertsch, Erhard Graf von Nostitz und Alfred Schulze-Hinrichs nahmen als Mitarbeiter Gehlens daran teil. Als Ständiger Sekretär der Konferenz wurde Johann-Adolf Graf von Kielmannsegg bestimmt, einst Oberst im Generalstab des OKH, ab 1950 im Amt Blank, 1966 Befehlshaber der NATO-Streitkräfte Europa Mitte. Kielmannsegg ist erwiesenermaßen ein Kriegsverbrecher, er war unmittelbar an Massenmorden in Polen beteiligt.

Etwa 150 Offiziere, die im Generalstab des faschistischen Heeres gedient hatten, durchliefen mit einer zum Teil langjährigen Tätigkeit die Organisation Gehlen und warteten auf ihre große Chance in der Bundeswehr. Darunter: Ernst Faber, ab 1951 Abteilungsleiter Personal im Amt Blank, 1973 Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte Zentraleuropa; Heinz Guderian, 1955 Abteilungsleiter im Bundesverteidigungsministerium (BMVg); Josef Moll, 1957 Oberst im BMVg, 1965 Generalmajor, Inspekteur des Heeres; Konrad Stephanus, 1961 Brigadegeneral und Kommandeur der Schule für Nachrichtenwesen der Bundeswehr.

Leo Hepp wechselte 1956 nach dem Aufbau der Fernmeldeaufklärung Gehlens in die Bundeswehr und wurde Generalleutnant.



Nazis als »Verfassungsschützer«
Als »sich die ersten Dienststellen des Verfassungsschutzes mit Personal füllten«, schreibt der bundesdeutsche Geheimdienstforscher Heinz Höhne, »kamen die meisten operativen Mitarbeiter von der Gestapo. Sie bestimmten praktisch die Arbeit des Verfassungsschutzes, speziell des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). An der Spitze standen 16 ehemalige Angehörige der Gestapo und des SD, von deren Existenz freilich die alliierten Kontrolleure nichts wußten. Kamen die Verbindungsoffiziere in das Haus, so weiß ein BfV-Insider, gab es Alarm und alles ging auf Tauchstation«.13

Für die Besetzung der Führungspositionen im BfV ist auch bezeichnend, daß sich vor allem solche Altnazis versammelten, die bereits im Vorgehen gegen Hitlergegner Erfahrungen und einschlägige »Verdienste« erworben hatten. Zu ihnen gehörte der Nachfolger Otto Johns als Präsident des BfV, der frühere Staatsanwalt am Reichsgerichtshof Hubert Schrübbers, der an den Untersuchungen gegen die Attentäter vom 20.Juli 1944 beteiligt war und in »Hochverratsprozessen« die Anklage vertrat; der frühere Staatsanwalt Ernst Brückner als Vizepräsident, der ebenfalls Hitlergegner anklagte; Johannes Strübing, der Ermittlungen gegen die »Rote Kapelle« leitete, Richard Gerken, der an der Liquidierung von 50 Antifaschisten und an der Mißhandlung und Folterung von Antifaschisten in Holland beteiligt war; Erich Wenger, Mitarbeiter der Gestapo in Paris; Gustav Barschdorf, 1974 verurteilt, weil er 1942 eine Norwegerin bei einer »Vernehmung« zu Tode gequält hatte.

Vizepräsident des BfV von 1951 bis 1964 war Albert Radke, Offizier bei der Reichswehr, 1935 bis 1937 Verbindungsoffizier zur Gestapo, an der Judenverfolgung in der Slowakei und an Untersuchungen gegen die Teilnehmer des 20.7.1944 beteiligt, von 1946 bis 1950 leitender Mitarbeiter in der Organisation Gehlen. Viele weitere Beispiele zu Mitarbeitern des Verfassungsschutzes im BfV und in den Landesämtern sind dokumentiert.

Auch der Aufbau und die Entwicklung des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) bzw. des Amtes für Sicherheit der Bundeswehr liefern den Beweis für die personelle Kontinuität von Stabsfunktionen in der faschistischen Wehrmacht über die Zugehörigkeit zu Geheimdiensten vor und nach 1945.

Der erste Leiter des MAD von 1956 bis 1957 war Gerhard Wessel, Offizier in der Reichswehr, Stabsoffizier in Frankreich und in der Sowjetunion, 1942 bis 1945 Leiter der Gruppe I bei FHO, Stellvertreter Gehlens ab 1943, 1945 Leiter von FHO, 1945 bis 1952 stellvertretender Leiter der Organisation Gehlen, Delegierung in das Amt Blank, dort Abwehrchef bis 1955, 1956 erster Amtschef des MAD, 1968 bis 1978 Präsident des BND. Weitere Leitungskader der Organisation Gehlen im militärischen Nachrichtendienst der BRD waren Josef Selmayer, 1957 bis 1964 Leiter des Amtes für Sicherheit der Bundeswehr, oder Armin Eck, 1967 bis 1972 in derselben Funktion.

Über die personelle Kontinuität von Nazi- und Kriegsverbrechern im Bundeskriminalamt, der Sicherungsgruppe Bonn und in den politischen Dezernaten der Landespolizeien gibt es zahlreiche Dokumentationen von Insidern, z.B. Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind – Die braunen Wurzeln des BKA, Köln, 2001.

Der Verlauf der Geschichte nach 1945 beweist eindeutig, daß es für die Tarnung, Straffreiheit und Wiederverwendung der ehemaligen Angehörigen der faschistischen Mord- und Terrorapparate und über diesen Personenkreis hinaus Strategien und Strukturen gab. Die Täter bestätigten sich gegenseitig ihre Unschuld, wurden über Rattenlinien ins Ausland gebracht oder aber in der Organisation Gehlen untergebracht, um später verantwortliche Funktionen in Geheimdiensten oder im Bonner Staat einzunehmen – auch an Einsatzorten im Ausland (siehe Teil II in der morgigen Ausgabe).

Anmerkungen

  • 1 zitiert in Dachauer Hefte Nr. 19, Andreas Weigelt: Das sowjetische Speziallager Nr. 6 Jamlitz; S. 275
  • 2 Vgl. junge Welt vom 31.07.1996
  • 3 Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. März 1957
  • 4 Vgl. Bernt Engelmann: Rechtsverfall, Justizterror und das schwere Erbe, Pahl-Rugenstein, 1989, S. 293
  • 5 Vgl. Reinhard Gehlen: Der Dienst, 1971, S. 149
  • 6 Vgl. Eichner/Schramm: Angriff und Abwehr, Die deutschen Geheimdienste nach 1945, edition ost, 2007
  • 7 ebd.
  • 8 Zitiert nach Mary Ellen Reese: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des Deutschen Geheimdienstes, Berlin l992, S. l92
  • 9 dokumentiert in Eichner/Schramm: Angriff und Abwehr, S. 71ff.
  • 10 Hans Speidel war bis Kriegsende in verschiedenen Führungsstäben der Wehrmacht tätig und leitete einige Zeit den Geheimdienst »Fremde Heere West«. Er hat aktiv an Analysen zum Aufbau der Bundeswehr mitgewirkt. 1956 wird er Generalleutnant der Bundeswehr, 1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Mitteleuropa. Hermann Foertsch diente 194l als Generalstabschef der Heeresgruppe auf dem Balkan, wurde 1945 wegen des Einsatzes gegen Partisanen angeklagt, jedoch freigesprochen. Foertsch hielt von München aus enge Beziehungen nach Pullach. Sein monatliches Rundschreiben »Orientierung«, vorwiegend an ehemalige Offiziere gerichtet, wurde über den Postweg der Organisation Gehlen versandt.
  • 11 Vgl. James H. Critchfield: Auftrag Pullach, Hamburg 2005, S. 126
  • 12 Wortlaut der Himmeroder Denkschrift in: Eichner/Schramm: Angriff und Abwehr, edition ost, 2007, S. 216ff.
  • 13 Vgl. Höhne, Heinz, Der Krieg im Dunkeln, Augsburg 1998, S. 509