Dienstag, 18. Oktober 2011

Rotes Kreuz und Rattenlinen

Das Rote Kreuz verhalf Tausenden Nazis zur Flucht

Neue Forschungsresultate zeigen das Mass der Fluchthilfe auf.

Mit ihren Rotkreuz-Pässen habe das IKRK nach dem Zweiten Weltkrieg Tausenden Nazis die Flucht ermöglicht und sich damit schuldig gemacht.

Zu diesem Schluss kommt der Historiker Gerald Steinacher
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Pascal Hollenstein

Adolf Eichmann, Josef Mengele, Erich Priebke: Dass schwer belastete Täter des NS-Regimes nach dem Zweiten Weltkrieg Reisepapiere des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) benutzten, um sich nach Südamerika abzusetzen, ist seit längerer Zeit bekannt und vom IKRK auch bedauert worden. Wie der Südtiroler Historiker Gerald Steinacher in seiner soeben erschienenen Habilitationsschrift «Nazis auf der Flucht» nun aber nachweist, handelte es sich dabei nicht um Einzelfälle. Im Gegenteil: Die Ausweise des IKRK haben es Tausenden Kriegsverbrechern, NS-Funktionären und Kollaborateuren erlaubt, sich nach dem Krieg der Strafverfolgung zu entziehen. Die IKRK-Präsidenten Carl Jacob Burckhardt und Paul Ruegger hätten von dem massenhaften Missbrauch gewusst, aber nichts unternommen.

https://picasaweb.google.com/Hexer.Ketzer/NaziChristen

Kreuzung Italien

Steinacher hat den Schriftwechsel zwischen der IKRK-Zentrale in Genf und den Delegationen in Italien ausgewertet. Insbesondere die Delegationen in Norditalien stellten ab 1944 bis in die fünfziger Jahre mindestens 120 000 IKRK-Pässe aus, mit denen die staatenlosen Flüchtlinge in andere Länder – besonders nach Südamerika – weiterreisen konnten. Da sich in Italien die Fluchtrouten aus dem Balkan, Ostmitteleuropa und dem ehemaligen Deutschen Reich kreuzten, waren die IKRK-Delegationen dort mit der Masse der Gesuchsteller heillos überfordert, wie Steinacher feststellt. Kontrolliert wurde praktisch nicht. Oft gab sich das IKRK damit zufrieden, dass zwei Zeugen die Identität eines Gesuchstellers bezeugten. «In der Praxis bedeutete das, dass sich drei SS-Kameraden nur absprechen mussten – und schon hatten alle einen Pass und damit eine neue Identität. Leichter geht es nun wirklich nicht», sagt Steinacher.

Wie umfangreich IKRK-Pässe genutzt wurden, illustriert das Beispiel von 9000 Angehörigen der SS-Division Galizien, die in Rimini interniert waren. Die Einheit, zusammengesetzt aus Volksdeutschen und Ukrainern, war nachweislich an Verbrechen an der polnischen und jüdischen Zivilbevölkerung beteiligt. Alle in Rimini internierten SS-Angehörigen erhielten im Jahr 1946 vom IKRK Pässe und wanderten als freie Siedler nach Kanada aus.


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Die Fluchtlinie über das IKRK wurde insbesondere von Kollaborateuren aus Ungarn, Kroatien und der Ukraine genutzt. Aber auch unter Volksdeutsche mischten sich die Nazi-Schergen. Vom IKRK waren diese als Staatenlose anerkannt. Andererseits war das IKRK besonders attraktiv, weil beispielsweise das bei Auswanderern beliebte Argentinien nur IKRK-Pässe akzeptierte. Zusammen mit den laschen Kontrollen habe das dazu geführt, dass das IKRK für Tausende «auf der Reichsautobahn für Kriegsverbrecher» (Steinacher) durch Italien zentral gewesen sei.

Laut Steinacher wusste die IKRK-Zentrale in Genf schon sehr früh von den Missbräuchen. Das IKRK sei vor einem Dilemma gestanden, sagt Steinacher. «Sollte man den vielen echten Flüchtlingen die Hilfe verweigern, weil in ihrem Strom auch Verbrecher mitschwammen? Das war eine schwierige Entscheidung.» Andrerseits hätte man die Kontrollen leicht verbessern können, vor allem gegen Ende der vierziger Jahre, als das IKRK über Erfahrung verfügte. «Das wurde in der Zentrale in Genf aber verschleppt», konstatiert Steinacher. Zudem hätten einzelne Delegationen «Kriegsverbrechern mehr oder weniger aktiv mit der Ausstellung eines IKRK-Ausweises zur Flucht verholfen, sei es aus Sympathie für Einzelne, aufgrund ihrer politischen Einstellung oder einfach aus Überlastung». Insofern treffe das IKRK eine «gewisse Mitverantwortung und Mitschuld. Die prodeutsche Haltung und der unterschwellige Antisemitismus der IKRK-Präsidenten Paul Ruegger und Carl Jacob Burckhardt spielten dabei eine Rolle», sagt Steinacher. Hierzu seien aber weitere Forschungen nötig.


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Ausserordentliche Lage

Ein Sprecher des IKRK sagt zu den Forschungsergebnissen, das IKRK habe schon früher sein aufrichtiges Bedauern über den Missbrauch seiner Dokumente geäussert. Man habe hier nichts zu verbergen, die Archive stünden der Forschung offen. Allerdings müsse man mitbedenken, in welcher ausserordentlichen Lage sich das IKRK damals befunden habe: «Es gab damals Tausende Flüchtlinge aus völlig ungeklärten Verhältnissen. Hätte man wirklich verlässliche Kontrollen eingeführt, hätte man zwangsläufig auch vielen echten Flüchtlingen nicht mehr helfen können», sagt der Sprecher. Zudem seien die Kontrollen in erster Linie Sache des Empfängerlandes gewesen.


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Gerald Steinacher

«Drei SS-Leute mussten sich nur absprechen – und schon hatten alle einen Pass und also eine neue Identität.»

Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Studienverlag Innsbruck, Wien, Bozen 2008. 379 Seiten, Fr. 50.90.

http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/das_rote_kreuz_verhalf_tausenden_nazis_zur_flucht_1.825790.html


Hintergründe der Templer (english)
http://www.archive.org/details/TheCommonLaw_741